„Als würde er neben mir stehen“

Einige Jahre sind vergangen, seitdem Jin Ju sich erstmals auf CD mit dem Spätwerk von Frédéric Chopin auseinandergesetzt hat. Nun hat die italienische Pianistin mit den chinesischen Wurzeln ihrem Album „Chopin Late Piano Works“ einen zweiten Teil folgen lassen. Im Zentrum steht darauf eines der wohl monumentalsten und überbordendsten Werke, die der Komponist hinterlassen hat: die 3. Klaviersonate in h-Moll.

Stephan Schwarz-Peters

Die erste war ein draufgängerisches Jugendwerk, das erst nach seinem Tod veröffentlich wurde; die zweite brach formal und inhaltlich zu neuen Bahnen auf und gehört heute wegen ihres dritten Satzes („Marche funébre“) zu den berühmtesten Klavierkompositionen der Welt; in seiner dritten zeigte der von manchen Kritikern als bloßer Meister der Miniatur angesehene Frédéric Chopin, dass er sehr wohl die überkommene Großform der Sonate beherrschte – und trotz der enormen Fülle an Einfällen, dem Melodienreichtum, der ihm wie keinem anderen zuzufließen schien, in stringenter Weise zu bändigen wusste. „Ich habe Chopins 3. Sonate erstmals einstudiert als ich 16 Jahre alt war“, erinnert sich Jin Ju, die gerade erst am Vortag unseres Interviews in Rom für eine Live-Sendung von RAI 5 mit Chopins Barcarolle op. 60 vor dem Mikrofon gesessen hat. 

Die Werke des großen polnisch-französischen Komponisten, der die Klaviermusik in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts auf seine Weise revolutioniert hat, scheinen sie täglich zu begleiten – und das über Jahre hinweg. Die Barcarolle hat sie neben einigen anderen Stücken – darunter die 4. Ballade, das 4. Scherzo und die Polonaise-Fantasie op. 61 – auf ihrem bei MDG erschienenen Album „Chopin – Late Piano Works“ eingespielt. Auf „Chopin – Late Piano Works 2“, einer Produktion desselben Labels, hören wir nun ihre Interpretation der Klaviersonate Nr. 3, jenem Koloss, mit dem sich Jin Ju nun also schon seit Teenager-Tagen auseinandersetzt. „Die Musik Chopins ist mir generell sehr nahe“, sagt sie, die sich gerade auf dem Weg vom heimischen Florenz ins nahegelegene Imola befindet, wo nicht nur der Motorsport zu Hause ist, sondern auch die Accademia Pianistica Internazionale „Incontri col Maestro“, an der die Pianistin unterrichtet. „Wenn ich Chopin spiele“, berichtet sie, „kommt es mir immer so vor, als würde er neben mit stehen, mir auf die Finger schauen und unmittelbar anfangen mit mir zu reden.“ Zugegeben, die Vorstellung ist ein bisschen unheimlich. Da Jin Ju beim Erzählen aber selbst anfangen muss zu lachen, scheint die okkult-gespenstische Dauerpräsenz des Meisters so störend auch wieder nicht zu sein.

„Der späte Chopin steht mir besonders nahe, weswegen ich ihn unbedingt auf CD aufnehmen wollte“, sagt Jin Ju. Auf die Frage, warum sie so lange gewartet habe, bis sie dem ersten Teil ihrer Aufnahme einen zweiten hat folgen lassen, führt sie das eigene künstlerische Gewissen ins Feld. „Es ist eine Frage der Zeit“, sagt sie. „Ich wollte mir einfach die Zeit lassen, die ich brauche, um tatsächlich auch alles so sagen zu können, wie ich es empfinde. Jedes Detail muss poliert werden, jeder dynamische Ausdruck so auf das Gesamte abgestimmt sein, dass es in sich stimmig ist. Wenn ich eine Aufnahme veröffentliche, ist das ein Statement. Damit drücke ich klar und verbindlich aus, in welcher Beziehung ist zu dem Werk stehe.“ Über sechs Jahre hat es gedauert, bis Jin Ju ihre Sicht auf den späten Chopin vervollständigt hat. Ja: vervollständigt. „Ich werde auch weiterhin CDs aufnehmen“, sagt sie und vermeldet im gleichen Atemzug, dass sie derzeit an ein Beethoven-Projekt denk. „Aber ‚Chopin – Late Piano Works 3‘ wird es nicht geben. Mit dem zweiten Teil ist der Zyklus abgeschlossen.“

Kombiniert hat die Künstlerin die Sonate mit der Berceuse op. 57, den drei Walzern op. 64 (darunter der berühmte „Minutenwalzer“), den späten Mazurken sowie mit Alfred Cortos Bearbeitung des Largos aus der Cellosonate: das letzte Stück, das Chopin vollenden konnte. Nicht nur, findet Jin Jun, dass einige dieser Werke noch immer zu wenig Beachtung bei Pianisten und beim Publikum finden. Auch entfalten sie gerade in Verbindung mit der h-Moll-Sonate einen besonderen Reiz, da sich in ihnen die Botschaft des großdimensionierten Stücks im Kleinen, im Miniaturhaften spiegelt. Entstanden sind die Stücke der CD in den mittleren und späten 40er-Jahren des 19. Jahrhunderts, zu einer Zeit also, in der der schwer lungenkranke Komponist mit seinem baldigen Ableben rechnen musste. Tatsächlich starb er am 17. Oktober 1849 in seiner Wahlheimat Paris, nachdem er bereits einen Monat zuvor die Sterbesakramente empfangen hatte. „Gerade in den Mazurken spüre ich diese unglaubliche Melancholie und Traurigkeit; es ist die Traurigkeit eines Menschen, der weiß, dass er nicht mehr allzu lange auf der Welt sein wird.“ Sie selbst, sagt Jin Ju, wäre manchmal den Tränen nahe, wenn sie diese Stücke spielt. „Es ist wirklich ein sehr emotionales Band, dass mich mit Chopin verbindet.“

Besonders ist nicht nur die Beziehung zwischen der Pianistin und dem Werk des Komponisten. Auch die das Instrument, auf dem die Einspielung für MDG entstand, ist kein alltägliches. Es handelt sich um den 1901 gebauten Steinway „Manfred Bürki“, an dem Jin Ju schon während ihrer Aufnahmen für die erste Folge gesessen hatte. „Ich liebe den Klang dieses Klavier“, schwärmt sie, die nicht erst durch ihren Ehemann, den Pianisten und Hochschullehrer Stefano Fiuzzi, das Spiel auf historischen Instrumenten kennengelernt hat. „Dieser Steinway ist so wunderbar weich und geschmeidig, ideal für Chopin, der seine Musik selbst auf einem Instrument von Pleyel spielte.“ Auch Jin Ju hat, neben einigen anderen Klavieren, auch zwei Pleyel-Flügel bei sich zu Hause. „An ihnen habe ich mich auch auf die Aufnahme der späten Chopin-Klavierwerke vorbereitet“, berichtet sie.

Mit der Veröffentlichung ihres aktuellen Albums hat Jin Ju ein wahrlich großes Projekt abgeschlossen. Froh und dankbar ist sie für die Unterstützung, die sie dabei von ihrem Label MDG erfahren hat. „Es ist großartig, mit Menschen wie Werner Dabringhaus zusammenzuarbeiten, auf die man sich vollkommen verlassen kann und die so überzeugt von einem sind.“ Auf ihren Lorbeeren wird sich die Künstlerin dennoch nicht ausruhen. Sie hat überhaupt keine Zeit dazu, denn neben ihrer Konzerttätigkeit nimmt sie das Unterrichten in Anspruch, dem sich seit Jahren mit großer Leidenschaft verschrieben hat – in Imola, aber auch in China, wo sie nicht nur am zentralen Konservatorium in Peking, sondern ebenfalls an anderen Institutionen lehrt. „Rund drei Monate im Jahr verbringe ich in China“, erzählt sie, die mittlerweile gelernt hat, zwischen den Kultur ihrer alten Heimat und der ihrer neuen, Italien, hin- und herzupendeln. „Mein Vater hat einmal etwas sehr Kluges gesagt: ‚Du bist eine Tochter Chinas – aber verheiratet bist du mit Italien.‘ Und damit hat er vollkommen Recht gehabt“, sagt sie mit einem Lachen. Doch bei aller Liebe zu Florenz und seiner lieblichen Umgebung, eines weiß sie bestimmt: „Die Nudel wurde in China erfunden und nicht in Italien – auch wenn perfekt gemachte Spaghetti das Beste auf der Welt sind.“    

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